Spiel mir das Lied vom Tod
Nachdem mich Louisa das ganze Wochenende mit Liedern aus dem Musikunterrich drangsaliert hat, denke ich gerade über Sinnhaftigkeit und Aktualität von Kinderliedern nach. Ergebnis: Kinderlieder sind alles, aber nicht zeitlos aktuell, und mit der Wahrheit haben sie es auch nicht immer. Das Trällern von »Zehn kleine Negerlein« ist ebenso politisch inkorrekt wie das Rezept aus »Backe, backe Kuchen« mindestens für Veganer überholt scheint, und die Geschichte aus »Kommt ein Vogel geflogen« bildet lediglich den wünschenswerten Idealzustand ab. Denn nicht alles, was runterkommt, kommt auch wieder hoch. Das weiß ich seit heute. Herr Dahlhoff und seine Schüler haben sich um den Spatz geschart, der in der Ecke zwischen der Heizung und dem Klassenschrank sitzt. »Brandschutzmeister Weiß, ich habe gehört, bei euch brennt’s Kameraden!« Mir brennt ein böser Kommentar unter den Nägeln. Ich verkneife ihn mir. »Ja«, ruft die Klasse wie im Chor. »Da sitzt ein Vooogel!« Fachmännisch begutachtet der Brandschutzmeister das verängstigte Tier. Natürlich weiß Herr Weiß genau, was zu tun ist. »Ich brauche nicht mal den Kescher«, stellt er nach zwei Minuten fachmännischer Begutachtung des Tieres fest – und packt zu. »Fenster auf, Kameraden. Aber schneller als die Feuerwehr jetzt!« Der Anschauungsunterricht startet sofort: Was passiert, wenn man einen Spatz aus dem Fenster der 2a aus dem dritten Stock wirft? Herr Weiß weiß die Antwort. Natürlich. »Er wird fliegen verspricht er den Schülern, die sich jetzt gleichmäßig und mit großen Augen an den vier Fenstern des Klassenraums verteilt haben. »Er ist nur erschreckt. Sobald er wieder Wind unter den Flügeln hat, ist er fit wie ein Fisch im Wasser.« Ich vertraue einfach darauf, dass dieser Mensch weiß, dass ein Spatz tiefer fallen könnte als ein Fisch im Wasser, beziehungsweise härter aufprallen. Weiß dagegen scheint sich seiner Sache sicher. Theatralisch schreitet er zur Tat und hält seine Hände mit dem verirrten Tier aus dem Fenster. Inzwischen ist es in der Klasse so still geworden, dass man einen Fisch atmen hören könnte. Spannung liegt in der Luft – auch der Duft von Angst. »Wird er es wirklich schaffen?«, fragt Meltem vorsichtig. Da hat Weiß auch schon seine Hände geöffnet und beginnt wie ein irrer Motivationstrainer zu schreien: »Flieg, Vöglein flieg!« Zwei Sekunden später macht es »Platsch!« Die Augen der Schüler blicken entsetzt nach unten. Der Vogel liegt leblos auf dem Schulhof. Tot! Ich habe selten so gelacht. Das ist politisch nicht korrekt, aber pfeifen es die Spatzen nicht vom Dach? Traue keinem Wichtigtuer – egal, ob er Hildebrandt-Fricke heißt oder eben einfach ein Mann ist. »Das ist hart!«, rutscht es mir heraus. »Lieber den Spatz in der Hand als tot auf dem Hof«, kann ich gerade noch für mich behalten.